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Wechselmodell: Modernes Ideal, harte Realität

Die Idee klingt zunächst bestechend: Wenn Eltern sich trennen, sollen beide weiter Verantwortung tragen, die Kinder sollen keinen Elternteil verlieren, und das, was vorher als partnerschaftliche Aufteilung gedacht war, soll nach der Trennung einfach weitergeführt werden – nur eben in zwei Haushalten. Das paritätische Wechselmodell wirkt in diesem Bild wie die logische Antwort: ein bisschen Gleichstellung, ein bisschen Fairness, ein bisschen moderner Zeitgeist.

Schaut man genauer hin, zeigt sich allerdings, dass dieses Modell hohe Anforderungen stellt, die in vielen Familien schlicht nicht gegeben sind, und dass die schöne Vorstellung von „50/50“ häufig mit der gelebten Wirklichkeit kollidiert.

Kein Standard, sondern ein anspruchsvolles Arrangement

In der politischen Debatte entsteht leicht der Eindruck, das Wechselmodell sei so etwas wie der neue Normalfall. Fachlich ist das nicht haltbar. Familiengerichte, Fachverbände und Forschung sagen seit Jahren recht deutlich: Paritätische Betreuung ist kein Standard, sondern eine Option, die nur unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt sinnvoll geprüft werden kann.

Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen klargestellt, dass ein Wechselmodell nur dann in Betracht kommt, wenn die Eltern belastbar miteinander kommunizieren können, emotional halbwegs stabil sind, nicht zu weit auseinander wohnen und ein alltagstaugliches Betreuungskonzept vorliegt, das dem Kind wirklich zugutekommt (BGH, XII ZB 88/24; XII ZB 415/23; XII ZB 459/23). Wo dieser Rahmen fehlt, wird aus der Idee von geteilter Verantwortung schnell ein Streitfeld, das vor allem die Kinder belastet.

Ungleiche Ausgangslagen verschwinden nicht durch „50/50“

Was in vielen Diskussionen fast ausgeblendet wird: Die meisten Eltern starten nicht aus einer gleichverteilten Situation in die Trennung. In der überwiegenden Zahl der Familien übernehmen Mütter schon vor der Trennung den Großteil der Care-Arbeit – Studien des Deutschen Jugendinstituts sprechen von Anteilen zwischen etwa 70 und 90 Prozent (DJI, 2022). Sie koordinieren Arzttermine, Elternabende, Hobbys, Freundschaften, sie kennen die Lehrkräfte, sie fangen emotionale Krisen nach der Schule ab und halten den Alltag in Bewegung.

Diese Realität verschwindet nicht, indem man sich nach der Trennung auf „hälftige Betreuung“ einigt. Arbeitszeiten ändern sich nicht über Nacht, Einkommensunterschiede auch nicht, und mentale Belastung verteilt sich nicht automatisch gerechter, nur weil das Modell „paritätisch“ heißt.

Im Ergebnis kann ein Wechselmodell, das auf dem Papier fair aussieht, die Schieflage sogar verstärken: Unterhaltsansprüche sinken, die Kosten für Kinderzimmer und Ausstattung fallen in zwei Haushalten an, Absprachen und Übergaben kosten Zeit und Nerven, und trotzdem bleibt ein Großteil der emotionalen und organisatorischen Verantwortung bei dem Elternteil, der sie vorher schon getragen hat. Das Etikett „Gleichberechtigung“ ändert dann wenig an der tatsächlichen Lastenverteilung.

Wenn das Wechselmodell zum Druckmittel wird

Frauenverbände und Forscherinnen weisen seit Jahren darauf hin, dass das Wechselmodell nicht nur aus idealistischen Gründen eingefordert wird, sondern teilweise auch strategisch – etwa, um Unterhaltszahlungen zu senken oder in Trennungskonflikten Einfluss zu behalten (Heiliger, 2017; Deutscher Frauenrat, 2021). Der Begriff „Zwangswechselmodell“ ist vor diesem Hintergrund kein rhetorischer Kampfbegriff, sondern spiegelt Erfahrungen von Müttern, die ein 50/50-Modell nicht aus innerer Überzeugung, sondern unter massivem Druck akzeptiert haben.

Besonders problematisch sind Konstellationen, in denen die Beziehung hochstrittig ist, Gewalt oder massive Kränkungen eine Rolle gespielt haben oder starke soziale Unsicherheiten bestehen. Die Forschung zeigt, dass Kinder in solchen Situationen durch ein paritätisches Modell nicht automatisch entlastet, sondern oft zusätzlich belastet werden, weil sie loyale Bindungen zu beiden Eltern aufrechterhalten sollen, während diese miteinander im Konflikt stehen (Wallerstein & Kelly, 2000; Walper & Alt, 2020).

Kinder brauchen Stabilität – mehr als politische Leitbilder

Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist relativ gut belegt, dass Kinder – besonders im Kindergarten- und Grundschulalter – von verlässlichen Routinen, klaren Bezugspersonen und überschaubaren Alltagsstrukturen profitieren. Ein regelmäßiger Wechsel zwischen zwei Haushalten kann dann gut funktionieren, wenn beide Eltern ähnliche Regeln, ähnliche Lebenswelten und ein Mindestmaß an Kooperation bieten.

Wenn aber der Alltag stark auseinanderfällt, Absprachen ständig bröckeln, Konflikte offen ausgetragen werden oder die Eltern selbst emotional am Limit sind, geraten Kinder schnell in Loyalitätskonflikte: Sie haben Angst, einen Elternteil zu enttäuschen, fühlen sich zuständig für Stimmungen oder versuchen, es allen recht zu machen. Die Folge können Rückzug, Schulprobleme, Schlafstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten sein – nicht aus „Widerspruch gegen das Modell“, sondern aus Überforderung mit den Rahmenbedingungen (Walper & Alt, 2020).

Das Modell ist nicht der Feind – der unkritische Einsatz schon

Entscheidend ist deshalb eine nüchterne Einsicht: Das Wechselmodell ist nicht per se gut oder schlecht. Es ist kein Allheilmittel für Gleichberechtigung, aber auch kein grundsätzlich problematisches Konstrukt. Es ist ein Werkzeug, und wie bei jedem Werkzeug kommt es darauf an, ob es zur Situation passt.

Es kann für Kinder und Eltern sehr gut funktionieren, wenn bereits vor der Trennung eine annähernd faire Aufteilung der Care-Arbeit gelebt wurde, beide Eltern stabil sind, räumlich nah beieinander wohnen und bereit sind, Konflikte so weit wie möglich von den Kindern fernzuhalten. Es kann aber ebenso schaden, wenn es gegen die tatsächlichen Kräfte, gegen die sozialen und finanziellen Möglichkeiten oder gegen die psychische Verfassung einer Familie durchgesetzt wird.

Wichtiger als das Modell: ehrliche Bestandsaufnahme

Eine verantwortliche, kindorientierte Entscheidung beginnt daher nicht mit der Frage „Wechselmodell – ja oder nein?“, sondern mit der ehrlichen Analyse der eigenen Ausgangslage: Wer hat bisher was getragen? Wie stabil sind wir emotional und finanziell? Was kann ich zuverlässig halten – auch dann, wenn der Alltag anstrengend bleibt? Und: Was braucht dieses konkrete Kind, mit seiner Geschichte, seinem Temperament, seinen Beziehungen?

Am Ende entscheidet nicht das Etikett des Betreuungsmodells darüber, ob eine Trennung gut oder schlecht verläuft, sondern die Fähigkeit der Eltern, ihre Situation realistisch einzuschätzen, Verantwortung nicht schönzureden, sondern fair zu verteilen, und das Wohl des Kindes über politische Leitbilder oder persönliche Gerechtigkeitsfantasien zu stellen.

Quellen (Auswahl):

  • Bundesgerichtshof (2024): Beschlüsse XII ZB 88/24; XII ZB 415/23; XII ZB 459/23.

  • Deutsches Jugendinstitut (2022): Familien- und Erwerbsarbeit in Deutschland.

  • Heiliger, A. (2017): Wechselmodell und Geschlechtergerechtigkeit.

  • Deutscher Frauenrat (2021): Stellungnahmen zum paritätischen Wechselmodell.

  • Walper, S., & Alt, P. (2020): Trennung, Scheidung und das Wohl des Kindes.

  • Wallerstein, J. S., & Kelly, J. B. (2000): Surviving the Breakup.

 
 
 

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